Die Brasserie La Nébuleuse in Renens bei Lausanne ist ein kleiner Brewdog, pardon, «Chien du Brassage». Die Brauerei startete vor vier Jahren mit einer 15hl-Anlage und hat die Kapazität nun auf 30hl verdoppelt: Mit dem neuen 5-Geräte-Sudhaus peilt die Brasserie 8000hl Bier pro Jahr an.
Der grandiose Erfolg erinnert an die schottische Braurakete Brewdog, die ihren Ausstoss innerhalb gut 10 Jahren von rund 1’000hl Bier auf über 343’000hl Bier katapultierte und damit, wenn sie in der Schweiz stünde, die grösste unabhängige Brauerei wäre, vor Locher, Hochdorfer und Schützengarten.
Wenn der Erfolg von La Nébuleuse anhält, wird die Brauerei in den nächsten Jahren die Rolle des Brewdogs de la Région Lémanique einnehmen können. Eine harte Konkurrenz für die etabliertere Brauerei und langjährigen Platzhirsch Dr. Gab’s sind sie schon heute.
Ich war am 9. Juni bei der Eröffnung der neuen Brauerei mit dabei. Sie hat ihren Standort immer noch bei einer unromantischen «Industriebrache» in einer Halle, einen Steinwurf neben der «alten» Anlage. Die bleibt bestehen als «Lohnbrauerei».
Bei der neuen Anlage ist wirklich alles neu – und vernetzt.
La Nébuleuse bezeichnet die neue Brauerei als «4.0». Zu recht! Sie hat mich total fasziniert, natürlich auch, weil ich selber auf Automatisierung stehe und in den 80er-Jahren schon mal versucht hatte, eine Selbstbau-Hobbybrauanlage zu «digitalisieren». Video hier. Im Gegensatz dazu funktioniert die Technologie bei La Nébuleuse aber – und die Biere, die herauskommen, sind superlecker.
Überall sehe ich Schächte mit sauber verlegten Kabeln, an deren Ende Sensoren Werte übermitteln und Motoren Ventile auf-und zu machen. Alle Daten fliessen in einem Kasten zusammen, dem digitalen Braumeister. Mit dieser Einrichtung dürfte La Nébuleuse nicht nur zu einer der erfolgreichsten Schweizer Brauereien der letzten Jahre zählen, sondern auch zu einer der modernsten.
Ein Mausklick – und der Brauprozess beginnt. Optimiert und mit der Garantie, dass ein Sud auch genau so herauskommt, wie er herauskommen soll. Platz für Zufall gibt es kaum mehr. Das geht auch nicht, wenn man seine Biere im Regal des Grossverteilers stehen haben will. Der will Verlässlichkeit und gleichbleibende Qualität.
Sind Biere aus einer solchen Brauerei noch Craft Bier?
Wenn wir den Begriff wörtlich nehmen, also «von Hand gemacht», sicher nicht. Das wenige, das bei der alten Anlage noch manuell war, ist jetzt automatisiert und in einen nahtlosen Prozess eingebunden. Christian Krucker, Chef der Brauerei Stadtbühl in Gossau, ist da wesentlich handwerklicher unterwegs, auch wenn viele seine Brauerei eben gerade nicht als «craft» bezeichnen würde, weil es ein klassischer Familienbetrieb ist.
Wieso gilt La Nébuleuse dennoch als Craft Beer-Brauerei? Etwa, weil sie eine spezielle Biervielfalt hat? Ja. Das Problem: Auch Schützengarten beispielsweise hat schon lange nicht mehr nur Lager im Angebot, sondern Stout, verschiedene Ales und ein IPA.
Ist Schützenarten also «craft»? Irgendwie nicht, weil zu gross. Aber halt: Was ist mit anfangs erwähnter Brewdog, der Craft Beer-Brauerei schlechthin? Sie ist grösser als Schützengarten.
Liegt es daran, dass Braumeiser Sebastian Bayer neben dem soliden Basis-Sortiment immer wieder verrückte, einmalige Kreationen zaubert und auch mal Senf in einen Sud hineingibt?Definitiv. Das ist sicher «craft».
Und dennoch: Mich macht der Begriff nicht glücklich – und er hat es auch noch nie. Ich schlage deshalb vor, dass wir uns davon verabschieden.
Vor allem auch deshalb:
«Craft» grenzt aus.
Er grenzt jene Brauereien aus, die aus historischen Gründen nicht als «craft» betrachtet werden, weil sie vielleicht zu etabliert sind. Oder weil sie statt einem Double Imperial India Pale Ale nur ein Lagerbier brauen, das dafür einfach nur grossartig ist.
Er grenzt Bierstile aus: «Ein «Helles» kann irgendwie nicht «craft» sein, um Himmels Willen. «Seit ich dieses estnische Schoko-Stout entdeckt habe, trinke ich sicher keine Lager-Pfütze mehr», gibt der Craft Beer-Kenner gerne von sich. Es ist ein bisschen wie «Bio», das alles, was nicht dazugehört, schlechter aussehen lässt.
Er grenzt jene Brauer aus, die kein riesiges Marketing-Trara machen können oder wollen. Die Craft Beer-Szene hat die Tendenz, krampfhaft und fast täglich neue Biere im Regal der «Craft Beer»-Shops sehen zu wollen mit möglichst «kreativen» Namen wie «Porn Star» und schreienden Etiketten. Solide, bescheidene Kleinbrauereien wie etwa Divus, die effektiv das Label «craft» verdienten, geraten da schnell in Gefahr, zu wenig beachtet zu werden. Vor allem dann, wenn sie sich auf ein, zwei «Standard»-Biere beschränken.
Sagen wir doch einfach: Bier.
Um nicht falsch verstanden zu werden: «Craft Beer» ist und war wichtig, damit endlich Schwung in den Biermarkt der Schweiz und anderer Länder kam. Ohne diesen Druck, hätten sich auch die etablierten Brauereien wohl kaum in die Richtung bewegt, wie sie es heute teilweise tun.
Endlich hat Bier den Stellenwert, den es verdient. «Craft» sei Dank.
Jetzt können wir uns wieder an Bier erfreuen! Egal, ob es in einer kleinen oder riesigen Brauerei hergestellt wurde, ob wirklich «von Hand» oder mit digitaler Steuerung, egal ob vermeintlich langweiliger Bierstil oder krasse Kreation, bei der Anhänger des deutschen Reinheitsgebotes Pickel kriegen.
Hauptsache, es schmeckt. Darauf ein Bier!
Im Sommer 2017 hatte ich Sebastian Bayer schon einmal besucht, Braumeister von La Nébuleuse – in der alten Anlage (Fotos und Videos). Da schaufelte er den Treber noch von Hand in einen Karren. Das ist dem Bier aber nun wirklich egal.
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